Flatliners

Grenzgänger zwischen Fläche und Raum

Markus Brüderlin


„Die Kruste besteht aus früher lebensfähigen und jetzt toten Zellen. Der Körper der Kunst hat sich, während er reagierte, aus diesen Zellen einen Schutzschild gemacht. ...Unsere Aufgabe als Künstler ist, so zu arbeiten, daß unter der Kruste - wenn sie einst zerfallen wird - eine lebende geschmeidige Haut ist, welche der Menschheit ein neues Bild (Idee) zu geben bereit ist.“
Luciano Fabro

Flach sind sie, die Wand- und Raumobjekte von Georgia Creimer, wie ausgewalzte Tuben; schlaff wie plattgedruckte Säcke, die hie und da nur durch ein Gestänge gestützt werden. Manchmal ragt ein Gummischlauch vom spitzen Ende eines flachen Beutels in den Raum, rollt sich vor den Füßen des Betrachters und fordert ihm auf, diesen körperlosen Körper doch aufzublasen (- eine sinnige Metapher für den umgekehrten Vorgang der „Rezeption“, bei dem nicht der Rezipient das Gefäß der Empfängnis ist, sondern er erst den Kunstobjekten den Odem einbläst). Gleichzeitig täuschen einige dieser „Flatliners“ aber auch ein Körpervolumen vor, blähen sich durch die illusionistische Oberflächenbemalung zu einer imaginären Körperlichkeit auf. Wieder andere wölben sich tatsächlich als Schalen und gespreizte Kartonstreifen von der Wand weg in den realen Raum hinein. Trotz der Schlaffheit west eine Kraft in diesen Objekten, die durch ihre eigentümliche, halbamorphe Geformtheit und durch ihre organischen Anmutungsqualitäten in der Tat wie beseelte Wesen erscheinen, die auf der weißen Wand und dem glatten Galerieboden lauern, sich leise regen und zuweilen auch einander umarmen. Einigen dieser gestaltlosen Kreaturen evozieren ein archetypisches Rückbesinnen an das eigene Körpersein als Amöbe, als einzelliger Bewohner einer Flachwelt. Assoziationen an Flagellatendrängen sich auf. die vor der Aufspaltung der Evolution in Tier- und Pflanzenreich die listige Fähigkeit entwickelten, als kapselförmige Zyste ungünstige Umweltbedingungen in einem Ruhezustand zu überdauern, um danach wieder munter durch die Ursuppe zu geißeln.

Der diskrete Charm des Monströsen

Bevor wir uns aber in der Beschreibung der poetischen Belegschaft einer wesenhaften Gegenwelt ergehen, die scheibar das Atelier und den Galerieraum bevölkern, müssen wir uns an die sachlichen und materiellen Gegebenheiten halten, aus denen die 1964 in São Paulo geborene Künstlerin ihre Konzeption aufbaut. Georgia creimer arbeitet mit eigenwillig geformten Leinwandstücken, deren Oberflächen durch Farbe zum Teil körperillusionierend bemalt werden. Manchmal wird diese Farbhaut durch mehrmalige Bemalung verdickt und mit chemisch aktiven Flüssigkeiten wie Säuren, zu einer taktilen Farbkruste gegerbt. Das Kolorit dieser Patina hält sich dann ganz in den stumpfen Tonigkeit von Erd- und Rostfarben. Die ersten flächigen Arbeiten, mit denen sie 1985 in São Paulo an die Öffentlichkeit trat, waren illusionistisch gemalte, wulstige gebilde, deren veknorpelte Auswüchse und volutenformige Einrollungen unmittelbar an das


Ohrmuschel-ornament des Rokoko errinerten. (S.4,35) Ihre Plazierung auf der ebenen Wand und ihr subversives Einnisten in die modernistische Architektur lehnte sich unzweideutig an die wichtigste Zweckbestimmung der Ornamentik früherer Zeiten an, nämlich an die Verlebendigung der vom Menschen gebauten und geformten, sachlich-funktionalen Objektwelt.

Der Querverweis zum manieristischen Ornament des 17. und 18. Jahrhunderts unterstreicht aber noch ein anderes gestalttypologisches Grundelement der Kunst von Georgia Creimer, nämlich den Hang zum Mikrokosmos einer von grotesken Wesen bevölkerten Kleinwelt., die durch den Transfer in unsere Größengrade ins Monströsen auswächst und so den Galerieraum in ein Panorama von scheinbar banalen, aber beseelten Wesenheiten verwandelt. Diese vermeintlich monumentalisierten Formen verleihen mit ihren „gurkigen“ Anmutungsqualitäten den werken einen unverwechselbar humorvollen Charakter. Die Assoziation zum Groteskenornament legt aber noch eine weitere Analogie offen, nämlich, das die Groteske und das Monströse des 17. Jahrhunderts, der Manerismustheorie von Gustav Hocke zufolge, im modernen Surrealismus seine Nachkommenschaft hat. Tatsächlich haftet diesen Zwischenreichwesen etwas Traumartiges an, das aber nicht so sehr an die Surrealen Zonen des Unbewußten reicht, sondern vielmehr als eine Art Gegenwelt ganz selbstverständlich gegenwärtig ist.

Wesenhafte Grenzgänger zwischen Wand, Raum und Boden

Allerdings fehlt durch die Neutralität der modernen weißen Wand diesen flachen Gestalten zunächst eine Verankerung in unsere physischen Körperwelt. Ihnen helfen an dieser Stelle die diverse Fundstücke wie Stangen, Röhren, Drähte, Schläuche, Blechscheiben oder Rundstäbe, die durch ihre gleichzeitige materielle Realität und funktionale Abstraktheit zwischen den zwei Weltgefäßenkommunizieren. Da windet sich etwa ein illusionistisch gezeichnetes Stück Schlauch um eine an die Wand geschraubte Halterung. Dieser entspringt, rechtwinklig in den Raum abstehend, ein reales, weißbemaltes Rohr, das den Kräftefluß der ebene umlenkt und in den Raum ausfließen läßt. seine s-förmige Biegung macht es in dieser Gestik auch als eine Art „Hörrohr“ lesbar, mit dem gleichsam das Innere der Mauer abgehorcht werden kann - oder hat die Wand einen Rüssel bekommen?

In einer anderen Arbeit lehnt ein dünnes, mannshohes Rohr an der Mauer. An seinem unteren Ende setzt ein pützenformiges Leinwandstück an, das wie eine ausgelaufene Flüssigkeit den Boden bedeckt. Die intensiv bearbeitete, rostfarben gegerbte Oberfläche korrespondiert mit einer kreisrunden Blechscheibe, die ebenfalls an der Wand lehnt und durch Säurebehandlung tatsächlich rostig-patiniert wurde. Georgia Creimer hat hier eines der sinnigsten, beziehungsreiche Aggregate geschaffen, mit denen sie versucht, von den flächigen, farbig bemalten Gebilden sowohl den physischen wie auch den zweidimensionalenWand-Raum zu erschließen. Ein wenig erscheint dieses Ensemble wie ein Parodie auf Blinky Palermos Arbeit “Blaue Scheibe und Stab“ von 1968. Der frühverstorbene deutsche Künstler hatte darin einen Holzstab und eine Holzscheibe vollständig mit blauen Tesaeinband umwickelt und in gleicher Weise an der Wand arrangiert. Dirk Stemmler schrieb dazu: „Das Bild (gemeint ist die Scheibe) blickt den Betrachter an und in de Raum hinein, den es auf sich lenkt, der Stab hingegen orientiert sich stärker nach links – auch nach rechts – in den Wandraum hinein, den es in seiner Träger – und Feldqualität fordert.“   Georgia Creimer macht in ihrer poetischeren Version gewitzt darauf aufmerksam, dass in diesem Dialog der unsichtbaren Kräfte der Boden vergessen wurde.

Poetische Animismus und somatische Intelligenz

Die Bindung illusionistisch – bildhafter Elemente an die materielle Realität von Dingen hat einiges gemein mit urtümlichen Methoden der Weltvergewisserung, wie sie die strukturalistische Sprachwissenschaft in früheren, vormythologischen Stammeskulturen nachgewiesen hat. Claude Lévi-Strauß hat beschrieben, wie im sogenannten „Totemismus“ solche Gesellschaften durch das Aneinander von bildhaft-symbolischen Elementen und naturhaften Objekten die Beziehung ihrer Kultur zur Natur und den Individuen untereinander regelten. Sein Weiterleben findet der Totemismus in unsere Zivilisation in dem Fetischhaften Umgang mit Objekten in der sakralen und in der Warenwelt. Ich erwähne diese Methode nicht, um den Arbeiten von Georgia Creimer einen verkappten Atavismus und Fetischismus zu bescheinigen, sondern um vorsichtig auf mögliche regionale Qualitäten hinzudeuten, die das Werk der brasilianische Künstlerin mit jener faszinierenden Fremdheit ausstatten, die es als so unverwechselbar eigenständige Erscheinung innerhalb der Wiener Kunstszene auszeichnet.

Gegenüber der auffälligen Belebtheit der flachen Formen, deren Anmutung und Geneigtheit in unserer auf Überleben trainierten Wahrnehmung unmittelbar Assoziationen an beseelte Wesen evozieren, tritt der magische Beschwörungszauber des Totemismus in den Hintergrund. Doch dieser Animismus ist bei Georgia Creimer merkwürdig gebrochen: Zum einen sind die Flachwesen erfüllt von einem Lebensodem, ganz gemäß dem klassischen Mythos von Pygmalion, zum anderen erscheinen die geblätteten Hohlformen als reine Körperhüllen, als bälge, denen die Seele gerade entwichen ist. Der italienische Künstler Luciano Fabro ließ 1972 ein über seinen Körper drapiertes Leintuch in Marmor nachmeißeln. Vage erkennt man in der zerknitterten Stofflandschaft seine Leibkonturen, denen aber der Kopf fehlt. „Lo Spitato“, „Der Ausgehauchte“, nannte er dieses Werk. Fabro stehet in der heutigen Kunstwelt als hartnäckigster Verfechter eines metaphysischen Kunstbegriffs. Ein Werk sei erst dann  Kunstwerk, wenn esmetaphysisch aufgeladen sei. Georgia Creimers Animismus dagegen enthüllt sich weniger spirituell-metaphysisch denn psychologisch und manchmal auch biologisch.

Die anima vegetativa macht sich zunächst an der Erinnerung an urtümliche Mikroorganismen und Lebensformen zwischen Tier- und Pflanzenwelt fest, an den Geißeltierchen und Becherkorallen, an den Parameciae und Schlauchpilzen, wie sie ähnlich in der Malerei von Wassily Kandinsky in den späten dreißiger und vierziger Jahren auftauchten. Während es aber dem russischen Maler in seinen späten Bildern um ein Gleichnis zwischen der Werkentstehung und der Genese des Kosmos (Werkschöpfung ist Weltschöpfung) ging, müssen wir Georgia Creimers Umgang mit elementaren Hüll-, Schlauch- und Gefäßformen als Bearbeitung körperlicher Denk- und Fühlzustände begreifen. Sie können in der Tat als Leibmetaphern, als abstrahierte, externalisierte (Sinnes-)Organe und Körperglieder gelesen werden, die sich im Raum verstreuen und in der Totalität der Installation aber wieder potentiell zur Ganzheit eines Organismus zusammenschließen. Da wären die drei „beinartigen“ Wandobjekte mit „Hosen“, an deren unterem Ende flache Bleistreifen auf den Boden herausragen. (S.13) „Schwer wie Blei“, sagt der Volksmund, wenn er sich über strapazierte Füsse beklagt. Zwei der „Hosenbeine“ stehen stramm, während das dritte aus der Reihe tanzt. Da umarmen sich ein steifes Blech-und ein ähnlich geformtes, schlaff im Raumwinkel abgesacktes Leinwandstück wie zwei Kotellettscheiben. (S. 23) 1990 schuf die Künstlerin eine Serie von zweiteiligen Kartonobjekten, die sich wie „Körperpanzer“ in den Raum hineinwölben und gleichzeitig in ihrer subtilen Zugeneigtheit erotische Spannungen erzeugen. (s. 16) Die gleichen schuppenartigen Elemente seriell gereiht, ergeben ein „Rückgrat“. Zu den ganz frühen Arbeiten gehören trichterförmige Wandobjekte, die an akustische Laut- und Sinnesorgane denken lassen.
Offensichtlich breitet Georgia Creimer vor uns die Gerätschaft eines „somatischen Kosmos“ aus, ein sensorisches Equipment, das das Weltempfinden als ein Leibfühlen, als leibliches in der Welt sein plausibel macht. Gleichzeitig entziehen sich diese Objekte durch ihre Flächigkeit der materiellen Körperwelt und geben zu verstehen, dass sie die Grenzen zu einem immateriellen, unsichtbaren Raum beschreiben, den der Mensch dennoch bewohnt und der ihn mit seiner unzähligen Gegenwart umgibt. Tatsächlich hat gerade die weibliche Ästhetik in den letzten Jahrzehnten im Körperlichen eine eigene Form des Denkens und Fühlens entdeckt. Der menschliche Körper ist eben nicht nur eine „gestopfte Wurst“, sondern ein eigenständiges Erkentnisinstrument, das uns den Zugang auch zum Unsichtbaren eröffnet. Von daher begründet sich zu einem guten Teil, neben der AIDS-Problematik, die Aktualität des Körperlichen in der Gegenwartskunst, obwohl die Päpste der hypermodernen Medientechnologie den Körper in der elektronischen Wolke einer technotransformierten Welt verschwinden sehen. Hans-Joachim Müller hat kürzlich mit diesem Irrglauben aufgeräumt: „Gegen die Realabstrktionen an den computerisierten Rändern des Kunstbetriebs, die mit Zeit und Raum auch die dingliche Wirklichkeit verschwinden lassen wollen, setzen Künstler ihre Arbeit vielfach in einem Körper Apriori an, akzentuieren ihr sinnliches Hier und Jetzt gegen den Wahn des digitalen Überall und jederzeit. Künstlerische Imagination kristallisiert immer wieder um ein Körper-ich, das neu zu entdecken scheint, dass die Welt der technischen Erscheinungen eben nicht die ganze Welt ist.“

Was macht die Leinwand ohne Keilrahmen?

Um bei der Behandlung der Körpermetaphorik nicht einem mimetischen Bild-Abbildverhältnis aufzusitzen, ist es gerade auch bei Georgia Creimer notwendig, ihre somatische Objekt-Konzeption aus der Bearbeitung und aus dem Ungang mit dem Medium Malerei, dem ihre Kunst entsprang, zu verstehen. Der auffälligste Zug ihrer Malerei besteht darin, daß sie diese vom Tafelbild, d.h. vom Keilrahmen und von der Rechteckform befreit hat. Als Kosequenz dieses Aktes verschmilzt die Malerei mit ihrem Träger zu einem flächigen Objekt, zu einem Stück „Haut“. Die Künstlerin hat diese Transformation verstärkt, indem sie die Leinwand in einigen Arbeiten tatsächlich wie Häute behandelt, die über Winkeleisen, die in den Raum hineinstehen, gehängt werden. (S. 21,22)

Man darf diese Hülen aber nicht, einen gängigen Missverständnis zufolge, als Haut der Künstlerin deuten. Die Metapher der Malerei als abgezogene und aufgespannte Haut, gleichsam als „ausgezogenes Nessushemd“  das nicht mehr auf der eigenen Seele brennt  entstammt der populären Vorstellung des Künstlers als exemplarisch für die Gesellschaft Leidenden. Zwar mag der Mythos des Marsyas, in dem der beleidigte Gott Apoll dem anmaßenden Satyr die Haut bei lebendigem Leibe abziehen ließ, weil dieser ihn im Flötenspiel übertraf, und den Tizian und José de Ribera in Schauriger Eindringlichkeit dargestellt hatten, einiges über das vergangene Rollenspiel des Künstlers zwischen de göttlichen und den weltlichen Mächten aussagen. Doch für die Gegenwartskunst steht die Hautmetapher für eine rein sachliche Bestimmung der Malerei. Zwar steht bei Georgia Creimer nicht die reflexive Beschäftigung mit den materiellen Grundelementen des Mediums Malerei im Vordergrund, dennoch stützen sich ihre Arbeiten unauswichlich auf die Errungenschaften, die die moderne abstrakte Malerei sich in dieser Beschäftigung erarbeitet hat. Gleich zu Beginn dieser Tradition stand damals die Feststellung des symbolistischen Malers Maurice Denis, der 1890 daran erinnerte, „dass ein Bild, bevor es ein Schlachtroß, eine nackte Frau oder iergendeine Anekdote ist, seinem Wesen nach eine ebene Fläche ist, bedeckt mit Farbe einer bestimmten Anordnung.“   Die Entdeckung der Oberfläche hatte weitreichende Folgen auch für die Skulptur und deren Eroberung des Raumes.

Die Entdeckung und die Paradoxie der Oberfläche

In der Malerei löste diese Entdeckung ein Programm der „ontologischen Reduktion“ aus, das in der Buchstäblich- und Identwerdung aller am Tafelbild beteiligten Elemente gipfeln sollte. Der Weg führte von der Ausglättung des illusionistischen Tiefenraumes in die Ebene des Bildes über die Identifizierung der bildnerischen Mittel von Farbe und Form mit der Realität der Bildfläche in der konkreten Kunst bis zur Identität von Fläche und Farbe in den fünfziger Jahren: „Alles ist Farbe und Fläche, und dies alles muß miteinander verschmelzen“, konstatierte Kenneth Noland. Mit Frank Stellas Angleichung der Binnenstruktur an die Bildkontur sollten alle malerisch-illusionistischen Tiefenelemente an die glatte Oberfläche geschwemmt werden.

Was in diesem linearen Prozeß des Buchstäblichwerdens eliminiert wurde, war aber das, was die Malerei in ihrem Wesen ausmachte. Identität wurde zur sinnbetörenden Tautologie des Sichtbaren und die Malerei zum glatten, überschaubaren Objekt übersteigert. Doch die Frage, was zwischen materiellem Träger und malerischer Fläche, zwischen der fassbaren Welt der Dinge und dem sichtbarer Feld der Oberfläche eines Bildes sich immer wieder für geheime Kräfte entzünden, war noch lange nicht erschöpft. In periodischen Abständen tauchte immer erneut die monochrome, in allen Falten und Tiefensuggestionen ausgeglättete Nullfläche auf, ohne dass die Malerei an ihr eigentliches Ende, wie es Alexander Rodtschenko erstmals in den dreißiger Jahren verkündet hatte , gelangte.

Ein entscheidender Grund, warum dieser Kontinent der totalen Autonomie und Identität niemals erreicht werden kann, liegt in einem grunsätzlichen Widerspruch zwischen dem sein in der Welt und unserem Bewusstsein darüber. Die Wissenschaft hat sich ihm am nächsten auf der Ebene der Wahrnehmungstheorie genähert: Es ist die Aporie von der Wahrnehmung der Welt als komplexes Konvolut von (Ober-)Flächen, die wir mit dem Auge ständig von der Dingwelt als Bilder „abschälen“ (oder besser: abstrahieren) und dem Wissen von der Körperlichkeit, die unsichtbar hinter diesen Bildhäuten lauert.Es ist ein existentieller Riß, der uns daher so nahe geht, weil wir die Welt sehend-schälend wahrnehmen und gleichzeitig selbst Bewohner eines Körper sind. Im Bereich der Psychologie existiert dafür der Begriff der Subjekt-Objekt-Spaltung, und auf der Ebene der Sinne beschreibt er den Unterschied zwischen der Sichtbarkeit und der Tastbarkeit, zwischen Augensinn und Körpersinn. Als ästhetisches Equivalent zu diesem zwar selbstverständlichen, aber doch letzendlich unergründbaren Zustand erweist sich überraschend nicht die Skulptur, sondern die Malerei in ihrem ungelösten Aneinander von bildhafter Imagination und dinglicher Faktizität. Als vermittelnde Kategorie zwischen beiden ontologisch getrennten Sphären (des Zwei und Dreidimensionalen) hat der menschliche Geist den Begriff der „Oberfläche“ erfunden, die weder das eine noch das andere und doch beides gleichzeitig ist. Die prominenteste und vertrauteste Oberfläche ist die Haut, ein komplexes Organ, das gleichzeitig als Behältnis für ein Körpervolumen, als Grenze und als sensitive Schicht fungiert.

Der Leib-körper und die Unermesslichkeit des Weltinnenraums

In Georgia Creimers körperlösen Körpern, die das Zwischenreich zwischen dem Zwei- und Dreidimensionalen bewohnen, können wir diese ontologische und wahrnehmungsphänomenologische Paradoxie in der Thematisierung der Malerei als Haut und Oberfläche bestens nachvollziehen. An dieser Stelle möchte ich eine Arbeit von 1990 zitieren, die die drei Funktionen der Oberfläche geradezu exemplarisch exponiert: Es handelt sich um drei nebeneinandergehängte, kissenförmig wie Ornamentkartuschen geformte Kartonstücke, die weiß bemalt undso an der Wand befestigt sind, dass sie sich von deren Ebene weg in den Raum hinauswölben. (S.26) Als ausgezonte Leerfelder gelesen, wirken diese wie Projektionsschirme für mögliche Einschreibungen. An den Rändern links und rechts schmigt sich die gewölbte Fläche an die Wand an, verschmilzt mit deren Ebene und wird umgekehrt als partielle Schwellung einer nunmehr organisch belebten Mauer fühlbar. Als „Kissen“ gelesen erweisen sie sich als körperhafte Polster, an denen gleichsam das Volumen des Betrachterraumes ruht. Und eine dritte Lesart macht diese verformte Rechtecke als schützende Schilde erkennbar, die als Oberflächen ein Dahinter, einen Hohlraum bergen.

Grundsätzlich scheint an der Leiblichkeit von Georgia Creimers Objekte immer deren <doppeldeutige Bestimmung von Raumverdrängendem Körper und raumschaffendem Hohlvolumen auf. (Der Begriff „Leib“ bezeichnet ja auch die subjektive Erfahrung der Dingwelt aus der eigenen, innerleiblichen Befindlichkeit.) Wollte man nun die spezifische Qualität dieser Hohlräumlichkeit, die nichts mit dem physikalischen oder durch feste Gefäßwände abgeschlossenen Raum gemein hat, charakterisieren, so müsste man auf poetisch-literarische Beschreibungen zurückgreifen. Rilke etwa sprach von der Unermesslichkeit des „Weltinnenraumes“, der durch alle Wesen reicht.

Es ist zu vermuten, dass Georgia Creimers malerisch-objekthafte Konzeption in einer solchen Innerweltlichkeit angesidelt ist, doch ich möchte den Interpretationsrahmen des jungen Werkes nicht überstrapazieren. Allerdings verrät der Hinweis der Künstlerin, dass sie versucht,in ihren bildhaften Wandobjekten immer die Sonorität der Stille einzufangen, ihr Sensorium für die unbestimmte Tiefe und Weite, der das Körperdenken offen steht. In diesem Sinne begreift sie die trichterförmigen Flachobjekte auch als akustische Instrumente, mit der dieser Weltinnenraum auf seine tiefe Stille abgehorcht wird. Darin kommt auch etwas von jener pathischen Wahrnehmung von Klanglichkeit zum Ausdruck, bei der, ähnlich wie in der Dämmerung, alle Distanzen schwinden und in der der Raum gleichmäßig erfüllt, homogenisiert wird. Dahinter steht aber nicht die kalte, Pascalsche Faszination am „ewigen Schweigen der unendlichen Räume“, sondern die Sensucht nach einem „romantisch-pantheistischen Aufgenommensein“. Georgia Creimer kombinierte eine dieser „Höhrrohre“ mit einer Holzkiste, in der „Holz zum Überwintern“ gestapelt ist. Man kann sich vorstellen, dass die Brasilianerin, die den Winter vorher nicht kannte, diesen atmosphärischen Zustand der Natur und Umgebung auf außergewöhnlich intensive Weise und als ausgedehnte Stille wahrnahm. Aus der Wahrnehmungspsychologie ist bekannt, dass Stille ganz besondere, manchmal halluzinogene plastische Empfindungen hervorruft und zwar in der Art, als würde das eigene Leibgehäuse sich selbst abhorchen und abtasten. Dabei kann die Erfahrung einer Unermesslichkeit entstehen, die mit derjenigen der äußeren Welt in Einklang steht. Georgia Creimer bemerkte in einem Ateliergespräch, dass die Arbeiten, so wie sie entstehen und wie sie in diesem Raum sich befinden, ihr absolut vertraut, selbstverständlich und nahe erscheinen.

Auch wenn es anfangs überrascht  hat, so begegnen uns nun diese wesenhaften Bewohner einer Flachwelt weniger als Zeugen eines fremden, geisterhaften Zwischenreichs denn vielmehr als vertrauliche Materialisationen eines Körperdenkens. Diese emphathetische Leiblichkeit ist aber nicht ein Atavismus, ein Rückfall in niedere, urtümliche Bewusstseinsformen, sondern arbeitet mit einer somatischen Intelligenz, die am bildnerischen Material reift, sich formt und die auf metaphysische und magische Überhöhung verzichtet. Georgia Creimers körperlicher Animismus kommt, und darin bestätigt sie den wertvollen weiblichen Beitrag zur Ästhetik der Gegenwart, ohne spirituelle und mystische Aufladung, ohne den Fundamentalismus eines Aktionismus oder die Leibtranszendenz eines Gottfried Benn aus. Wir begegnen hier einem Werk, das im Prozeß des malerisch-plastischen Schaffens ganz selbstverständlich und mit unverkennbar humorvollem Charme ein Stück Leben formt.

1 Luciano Fabro: „Unter der Kruste der zeitgenössischen Kunst“, Vorlesung 16. 1. 92, Accademia di Brera (zit. Nach: (Kat.) „Transform“, Basel 1992, S. 178.)

2 Dirk Stemmler: „Blinky Palermo, Zu dieser Ausstellung“, in: (Kat.) „Palermo“, Städtisches Kunstmuseum Bonn 1981, S. 106.

3 Hans-Joachim Müller: „Vom Verschwinden der Wirklichkeit – Über einige Fiktionen im Umgang mit den computergestützen Künsten“, in: BaZ, 14. 10. 1993, Feuilletonseite.

4 Nessushemd: Nach der griechischen Mythologie bekam Herakles von seiner Gattin Deianeira ein wunderschönes Gewand, das diese von dem rachsüchtigen Kentauren Nessus mit dem Versprechen, es berge einen Liebeszauber, empfangen hatte. Beim Auftreffen des ersten Sonnenstrahls entflammte es sich aber zu einem fleischzerfressenden Hemd, aus dessen Glut der Held zum unsterblichen Halbgott in den Olymp erlöst wurde.

5 Maurice Denis: „Définition du Néo-Traditionalisme“. In: „Art et critique“, 23. U. 30. August 1890

6 „Ich habe die Malerei zu ihrem logischen Ende gebracht und habe drei Bilder ausgesstellt: ein rotes, ein blaues, und ein gelbes und dies mit der Feststellung: Alles ist zu Ende. ... Jede Fläche ist eine Fläche, und es soll keine Darstellungen mehr geben.“ A. Rodtschenko: „Arbeit mit Majakowski“ (1939), in: „Von der Malerei zum Design“, (Kat.) Galerie Gmurzynska, Köln 1981, S. 191.