Ich und Du

Susanne Neuburger 1999

Ein gewisses dialogisches Dispositiv, das Werke wie „ICHDU“, „Puzzle“, „Linse“ etc. bestimmt, ist weniger die reale Begegnung im Dialog als die Relation, die aus einem Ich-Du-Verhältnis hervorgehen kann. Dessen exemplarisches Modell wäre die Relation zwieschen Anredendem und Angeredetem, die Georgia Creimer in eine kommunikative Arbeitsstruktur erweitert, die Objekt, Fotogrefie, Malerei und Schrift sein kann. Wilhelm von Humboldt, der das Ich-Du-Verhältnis avant la lettre erforschte, sprach von „hypostasierten Verhältnissbegriffen“ in Bezug auf Ich, Du und Er,  was sowohl das spekulative Herangehen an Gegenseitigkeiten (und damit auch an Wahrnehmungen) als auch deren Sichtbarmachung beinhaltet, wie sie später in den Publikationen von Martin Buber beschrieben werden, dessen „Ich und Du“ für Georgia Creimer ein wichtiges Buch ist. Daß sie gelegentlich mit Sprache arbeitet, scheint wie eine Referenz an das Ausgangsmodell der Rede, allerdings ist Sprache in Schrift mutiert: Botschaften, denen längst der Körper abhanden gekommen ist. Generell ist der Topographie Ort und Körper entzogen. So verbindet die aus mehreren Arbeiten bestehende Gruppe „Linse“ den Verlust des Ortes, der durch das Fotografieren des Motivs in einem konkaven Spiegel entstanden ist, bei dem der Ort buchstäblich herausgeschnitten und herausgestanzt wird. Ein Bild aus dieser Serie - das Oval eines Himmels mit Betonung einer vertikalen Achse - erinnert an seine Archetyp, nämlich Stieglitz’ „Equivalents“, für die Rosalind Krauss den Ausschnitt als „die einzige Sache, die das Bild ausmacht“ betonte.  Georgia Creimer setzt zusätzlich den Apparat als Denkmodell ein, und alles, was Spiegel und Linse als quasi verdoppelte Apparate verzerren und unter die Lupe nehmen, wirkt losgelassen, fliegt und schwebt und wirft wieder ins Oval zurück, was schon einmal außen war. Auch bei einer weiteren, aus sieben Ovalen bestehende Arbeit gleichen Titels, die in der Abfolge von links nach rechts kontinuierlich größer, d.h. runder wird und in den Höfen ums Atelier entstanden ist, gerät der Ort ins Wanken und wird dadurch zugleich nahe wie auch fern, wobei die Nähe Erinnerung aufkommen läßt und die Ferne sich einem Fremden/Anderen zuordnet. Dies unterstreicht auch die Sequenz im zunehmenden Format, die wie eine Schrift wirkt, die im Zuge des Schreibens größer  wird und um eine Relation in der Sichtbarmachung kämpft. Sowieso ist eine Orientierung im Raum nicht immer möglich, die Linse sagt uns in ihrer apparativen Bearbeitung: Hochfliegen und Tieffallen. Wo ist oben, wo ist unten? Wenn man von der Arbeit „100 x Jakob“ noch einige Schritte entfernt ist, scheint sie wie ein Sternenhimmel, und auch der „Luftmensch“ könnte diese Gefildee als seinen Ort bestimmen...

Und erst recht der Körper, der ganzheitlich da, aber Ausschnitt ist und als Fragment sichtbar wird, der Kopf oder Hand sein kann, der schläft oder wacht und im Puzzle, im neuerlichen Zusammensetzen einen anderen Untergrund hat. „Puzzle“ zeigt zueinander in Beziehung gesetzte Gipsformen, die schlafende Köpfe bzw. Gesichter enthalten, nur die Künstlerin ist wach bzw. aufgewacht. Walter Benjamin sah Erinnern und Erwachen aufs engste miteinander verwandt: „Und Erwachen ist der exemplarische Fall des Erinnerns. Jener Fall, in dem es uns gelingt, des Nächsten, Naheliegendsten (des Ich) uns zu erinnern“ . Das Puzzle als „eine Form des praktischen Erinnerns“ (Walter Benjamin)  ist dann die Ausführung davon, obwohl viele kleine Teile bei Georgia Creimer kein Ganzes ergeben, sondern eine Vielheit von Relationen, was nicht nur für „Puzzle“, sondern auch für „100 x Jakob“ zutrifft. Dieser extremen Konzentration auf Gesicht, Blick und Augen steht die Werkgruppe „Behandeln“ gegenüber. „Behandeln“ heißt eine andere Version dessen, was außen ist, ganz außen, was die Hand tut, wenn das Auge nicht mehr ausreichend ist. Die Fotos, die auf den Händen liegen und wie dargebracht wirken, mahnen wieder an das Dialogische, von dem schon klar  ist, das zwar das Du gemeint ist, aber die Ichheit den Vorrang hat.

„Ich bin es, ich bin es wirklich!“ Die Rede ist nicht an das Du gerichtet, das es zwar impliziert, tatsächlich aber ist im Satz ausschlißlich die Ich-Rede betont, die verdoppelt und als Ausruf gekennzeichnet ist: als wäre sie unfaßbar, aber doch beschreibbar, und mit der ausdrücklichen Verankerung „wirklich“ in einem nicht näher definierten Realen versehen. „Wirklich“ muß auch das Glas meinen, die gläserne Kugel, an der die Schrift angebracht ist. Das Selbsterleben der Persönlichkeit ist an das liegende Auge, das Glas, die Linse abgetreten, und dieses Glas erdet sich mit einem grauen Samtpolster, der „wirklich“ Gebrauchsgegenstand sein könnte, wenn der Dialog eintritt.

 In den drei Teilaspekten, die das „Ich-Du-Verhältnis“ bei Martin Buber hat, kommt der Sprache verschiedene Bedeutung zu: so besteht neben der (gewichtigsten) zwischenmeschlichen Relation in der Sprache das untersprachliche „Leben mit der Natur“ sowie das „sprachlose Leben mit den geistigen Wesenheiten“ . Gerade letzteres scheint mir für die Arbeit „ICHDU“ von Bedeutung, die aus auf der Wand angebrachten Schriftzügen mit der fortlaufenden Wortfolge ICHDUICHDU usw. besteht, die als Liniensystem abstrakten Fotografien und Kreisformationen gegenübersteht. Es ist eine Welt für sich, die gleichwohl den dialogischen Ansatz in sich trägt und in den ungegenständlichen Bildern Auflösung als Grenzbereich zum Thema macht. Sowieso rühren diese Bildern an Grenzen von Sichtbarmachung und Wahrnehmung und fangen dort wieder an, wo auch das Ich-Du beginnt: Ich bin es, ich bin es wirklich!

Ist der Luftmensch, als welcher im Jiddischen ein arbeitsscheuer Nichtstuer bezeichnet wird, ein Fremder? Und wenn ja, für wen? Denn ist er nicht auch der sympatische Verweigerer, der in den Wolken schwebt und die Horizontlinie verloren hat? Die Arbeit „Luftmensch“ hat wie „ICHDU“ ein ebenso systemisches Dispositiv in der Verbindung von Sprache und Bild. Kleine runde Bilder in vielen Farben schließen den Schriftzug ein. Sie sind zugleich Malerei wie sie sich davon entfernen und zur Schrift „Luftmensch“ eine Relation herstellen. „Luftmensch“ bietet trotz des Wissens um seine Bedeutung viele Anknüpfungspunkte, die allesamt eine Rolle spielen und lebendig halten, was sich hier farbig und leichtlebig im Kreis bewegt.

Der Gips ist eine Verfestigung eines Materials, das zuerst Staub, dann aber flüssig war. Als quasi skulpturale Form steht er bei Georgia Creimer Schrift und Fotografie gegenüber, was nicht nur für „Puzzle“, sondern auch für die ältere Arbeit „Landscape-cakes“  gilt, die ein Bindeglied zwischen neueren und älteren Arbeiten darstellt. Fotokopien von Werken von Thomas Ender, der nach Brasilien kamm, um dort den fremden Ort zu erforschen und topographisch in Bilder aufzunehmen, sind in Gips gefaßt. Sie operieren mit einer „Fabrikation von Fremde“ (Christina von Braun). Diese liebliche Aquarelle sind gleichwohl Bilder der Eroberung und Domestizierung, sie sind Realisierung von Utopie und Auslöschung von Fremde, die Wohnzimmer und Eroberung einander angleicht.   Auf diesem Weg der Verwandlung der Fremde in eine Wohnstube geht Georgia Creimer noch einen Schritt weiter und gibt diese Bilder als Kuchen, als Cakes aus Gips aus, als extrem domestizierte Endprodukte, die in der Wohnstube zu Verschlingen bereit stehen.

Ebenfalls für die „Wohnstube“ und deren Sichtbarmachung anderer Einstellungen ist das Multiple „Blume“ bestimmt, das ebenso eine Verbindung von älteren und neueren Arbeiten darstellt und erstmals den konkaven Spiegel verwendet. Eine blühende Topfpflanze steht auf einer Konsole vor einem Spiegel, der Platz der Blume ist genau festgelegt, während sich im Spiegel alle Möglichkeiten auftun, die mittels einer Gebrauchsanleitung erschlossen werden können. Dort heißt es als „Zielwahl“: „Neueinstellung ihres Sehapparates verändert die Qualität des Objekts...“ oder „Die Sehstärke kann sich mit der Bewegung des Speicherinhalts erhöhen...“ Der Dialog findet hier life statt, ist aber dennoch in Nähe und Ferne aufgegliedert, verzerrt, verändert und korrigiert und beinhaltet Erinnern wie nach einem Traum: „Denn das Erwachen operiert mit der List. Mit List, nicht ohne sie, lösen wir uns von Traumbereich los.“  

 

1 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. Von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Band IV, Basel/Stuttgart 1976, S.20.

2 Vgl. Rosalind Krauss, Stieglitz’ Äquivalente, in: R.K., Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, S.136.

3 Walter Benjamin, Pariser Passagen II, in: W.B., Gesammelte Schriften, Band V/2, hrsg. Von Rolf Tiedemann, Frankfurt 1982, S. 10.

4 Ebenda, S.1058.

5 Wie Anm. 1, S.19.

6 Vgl. Christina von Braun, Der Einbruch der Wohnstube in die Fremde, Bern 1987.

7 Wie Anm. 3, S.1058.

Susanne Neuburger, aus „Ich und Du“ , Katalog Georgia Creimer „Ich bin es, Ich bin es wirklich!“,1999