zu Georgia Creimer: Psychogenics

Patricia Grzonka 2009

 

Georgia Creimers Arbeit für APG umfasst zwei großflächige Wandmalereien im Stiegenhaus, die sich im Übergang vom 35. zum 36. Stockwerk befinden. Creimer betitelte ihren Beitrag mit Psychogenics, womit sie auf eine enge Verknüpfung von malerischen und mentalen Prozessen verweist: Psychogenic bedeute, so Creimer, „psychologisch bedingt“. Tatsächlich entfalten die beiden Wandzeichnungen im Stiegenhaus einen dynamisierenden Sog, der sich der fixierenden Wahrnehmung entzieht und diese je nach Betrachterstandpunkt verändert. Die Frage, wie hier der Terminus „psychologisch“ genauer bestimmt wird, rückt dabei rezeptionsästhetische Prozesse ins Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung.

Beide Zeichnungen basieren auf der gleichen Grundstruktur. Sie werden aus zellenartigen Gebilden unterschiedlicher Größe und Dimensionen geformt, die sich direkt aneinanderschmiegen und einen imaginären Raum darstellen. Durch die Beschränkung auf den Kontrast von schwarz und weiß sowie durch eine formale Reduktion, wird der Eindruck einer graphisch konzipierten Arbeit erweckt, deren Hauptmedium im Zeichnerischen liegt, die aber auch Ähnlichkeiten zu Comics und vor allem zu den sprechblasenartigen Gebilden in Comics aufweist. Doch dieser simplifizierende Eindruck täuscht – ist, wenn man so will, „psychologisch bedingt“ – und entspricht nicht der hauptsächlichen Intention der Künstlerin und schon gar nicht dem äußerst aufwändigen Herstellungsverfahren der Arbeiten. Mit Video-Beamer wurde die Struktur nach einer am Computer entstandenen Vorzeichnung auf die Wand projiziert, abgezeichnet und von Creimer später zusammen mit einem Assistenten direkt auf die Wand gemalt.

 

Im Gesamtwerk von Georgia Creimer haben diese merkwürdigen, schwer zu definierenden rundlich-ovalen Formen ihren Ursprung in einer Serie von Arbeiten aus dem Jahr 1999, in der sich die Künstlerin mit Endlosprozessen beschäftigte. Daraus entstanden zwei Objekte, die von einer schwarz-weißen Zellstruktur überzogen waren: Diese mit Sisyphus betitelten Werke verstand Creimer als Sisyphus-Arbeiten im übertragenen Sinn, die potenziell unendlich lange hätten weitergeführt werden können. Mit dem Verweis auf die Möglichkeit der nie endenden Aneinanderreihung dieser Formen ist eine Analogie zu Formbildungsprozessen in der Natur gegeben, zu biologischen Zellen und sich selbst generierenden Strukturen, denen der künstlerische Formgenerierungsprozess hier angeglichen wurde. Aus diesen Arbeiten entstand ein Gemälde, Zelle, aus dem Creimer das Zentrum herausdestillierte, das wiederum die Basis für Psychogenics bildete. Die entnommene Figur wurde am Computer vergrößert – eine digitale Manipulation der ursprünglichen Form. So entstanden zwei unterschiedlich dichte und unterschiedlich verzerrte Anordnungen ein- und derselben Grundstruktur, die dementsprechend als unterschiedliche körperliche Zustände gelesen werden können: „In der 35. Etage soll der Eindruck erweckt werden, dass der dargestellte Raum im Begriff ist, Kraft zu sammeln, wie um die nötige Energie aufzubringen, um die Stiege hochzusteigen. Oben, auf dem 36. Stock, wo es nur mehr möglich ist, hinunter zu gehen, suggeriert ein ähnliches Bild, dass sich der Raum ausbreitet und vergrößert, wie wenn er sich fallen lassen wollte“, so die Künstlerin.

Obwohl es technisch durchaus möglich gewesen wäre, am Computer entworfene Sujets direkt zu plotten und auf einer Wand zu applizieren, hat Georgia Creimer, wie übrigens die meisten anderen Künstler und Künstlerinnen dieses Projekts für APG auch, es vorgezogen, ihr Werk in Handarbeit auf die Wand zu malen. Im Gestus der mühseligen handwerklichen Ausführung lässt sich nicht nur eine nach-postmoderne Rückkehr zum auratischen Kunstwerk erkennen. Die Wandzeichnungen verdanken jenem auch eine enorme Elastizität, die sie nun in ihrer materiellen Realisierung erhalten. Reizvoll sind dabei gerade die Kombination und der Kontrast der unterschiedlichen Produktionsweisen: Der Charakter der Handzeichnung bleibt trotz Scratchen und Dehnen am Computer erhalten.

Den Kriterien von Ortsspezifität zufolge, die besagen, dass Kunst, die für einen bestimmten Ort produziert wurde, sodass sie mit diesem untrennbar verbunden bleibt, sich nicht nur architektonisch und funktional, sondern auch inhaltlich mit ihm auseinandersetzt (1), entspricht Creimers Arbeit für APG einer Form des produktiven Dazwischen, indem sie einerseits eine gewisse Autonomie beansprucht, andererseits den Kontext sehr genau mit einbezieht. Eindeutig für diesen spezifischen Ort konzipiert, wendet sich Psychogenics nicht an ein anonymes Kunstpublikum, sondern fordert die Menschen im Büroalltag dazu auf, ihren eigenen Bewegungsmodus innerhalb der architektonischen Struktur zu reflektieren. Das Stiegenhaus ist von seiner Definition her nicht nur ein Ort, an dem körperliche Aktivität gefragt ist, sondern auch einer, der Verbindungen schafft. Dieser Zustand des Dazwischen ist dabei auch ein signifikanter für Creimers Arbeiten generell: Ihre Skulpturen und Objekte liegen an der Grenze zwischen amorph und abstrakt, zwischen anorganisch und organisch – und sind damit Teil eines Diskurses einer „Verlebendigung“ von Wissensprozessen, bei dem die wechselnden Transfers zwischen bildender Kunst und Lebenswissenschaften den Dualismus von Kultur und Natur abgelöst haben. In ihrer Werkgruppe Naturezas untersuchte sie die „Angleichungen“ von gestalteten – im weitesten Sinn architektonischen – Objekten an deren „natürliche“ Bedingungen. Creimer entwickelte hier eine Reihe hybrider Formen, die die mannigfaltigen Beziehungen von Natur und Kultur spiegeln und gattungsspezifisch zwischen klassischer Skulptur und Ready-made liegen. In der Arbeit „Kalb“ beispielsweise treffen sich tierische Ausstattungselemente mit der Verfahrensweise künstlerischer Produktion. Um die Konturen eines echten Kalbfells herum zog Georgia Creimer eine Gipswand auf und bedeckte die lappenförmigen, rundlichen Umrisse mit einer transparenten Plexiglasscheibe, wodurch sich ein Dialog der unterschiedlichen angesprochenen Sinne mit den haptischen Eigenschaften der Materialien entspinnt.

In einer Loslösung von den antagonistischen Prinzipien der historischen Avantgardebewegungen sah einst der lateinamerikanische Konzeptualismus das modernistische Versprechen einer Überführung von Kunst in die Lebenspraxis realisiert (2). Mit einer Erweiterung der Funktionen, die das Kunstwerk im traditionellen Verständnis innehatte, und die in einer besonderen Verdichtung von Aspekten visuell-optischer und multisensorieller Verfahren lagen, unterscheiden sich die KünstlerInnen dieser zentralen Bewegung von der abstrakt-raumbezogenen nordamerikanischen Variante der Konzeptkunst. Brasilianische Künstler und Künstlerinnen wie Hélio Oiticica oder Lygia Clark, die zu den Hauptvertretern und -vertreterinnen dieser Richtung gehören, bezogen sich dabei stark auf das sozio-politische Umfeld, den „gesellschaftlichen Raumkörper“ als Teil eines interaktiven, ganzheitlichen Kunst- und Lebenskonzepts. Georgia Creimer sieht sich mit ihrer Idee eines sozialen, psychologisch konnotierten Raumes, der auch in ihrer Arbeit zum Tragen kommt, zwar in dieser spezifischen brasilianischen Tradition der Auseinandersetzung mit Raum, Kultur und Gesellschaft, versteht ihre Arbeiten aber gleichzeitig weniger interventionistisch, sondern als intime und für den individuellen Gebrauch bestimmte Kunst.

Der Eindruck des sich dehnenden Raumes, der durch die unterschiedlichen Verformungen in Psychogenics entsteht, ist eine Art Dispositiv zur optischen Verzerrung. Die Wandzeichnungen erlauben es uns, über verschiedene körperliche Bewegungsabläufe zu reflektieren: Solche des Innehaltens, der Kontraktion und des Loslassens. Es wird kein konkreter Raum evoziert, sondern die Vorstellung von einem Raum als eines komprimierten oder gedehnten Zustands. Dies erweist sich durchaus auch als „psychologisch bedingt“ und funktionell in Bezug auf die Menschen, die hier arbeiten.


Patricia Grzonka aus „Georgia Creimer: Psychgenics“ , Katalog “artoffice under construction

 

 

1 Vgl. Miwon Kwon, One Place After Another. Site-specific Art and Locational Identity, Cambridge, Massachusetts/London, England: MIT Press, 2002.

 

2 Mari Carmen Ramirez, Taktiken, um in Widrigkeiten zu gedeihen: Konzeptkunst in Lateinamerika, 1960-1980, in: Sabine Breitwieser (Hrsg.), vivencias / Lebenserfahrung, Wien: Generali Foundation, 2000, S. 61-104.