Entgrenzungen

Georgia Creimer in der Galerie „Raum mit Licht“, 2010

Patricia Grzonka

In ihren Arbeiten Linse – einer Serie von Fotografien, die seit 1999 in loser Folge entstanden sind und die den Hauptbestand der Ausstellung Mind / Mirror / Calf ausmachen – beschäftigt sich die Künstlerin Georgia Creimer mit dem Konkavspiegel als einem ambivalenten Objekt, das unterschiedlichen Betrachtungsmodi unterliegt und je nachdem integrierend oder aber dekontextualisierend wahrgenommen wird. Rund, nach innen gewölbt und hohl, schleudert der Konkavspiegel je nach Standpunkt der Betrachterin oder des Betrachters die reflektierten Gegenstände um 180 Grad gedreht nach außen oder löst sie sogar in abstrakt-ornamentaler Musterung auf. Er scheint ein illusionistisches Eigenleben zu führen, das an den animistisch-bildhaften Naturbezug von Fetischobjekten erinnert. Creimer fotografiert den Spiegel in wechselnden Umgebungen, so dass er einerseits Träger von abstrakten visuellen Botschaften wird, andererseits aber auch den Bildraum überraschend öffnet und bisweilen einen ganz anderen Ausschnitt von Welt präsentiert.

Der Konkavspiegel wird so zu einem surrealen Erkenntnisgegenstand par excellence, indem die sichtbare Realität verfremdet und verzerrt ins Bild herein geholt wird; für das Auge wird eine Art „natürliche“ Collage konstruiert. Psychologisch interpretiert, führt der Spiegel gegenüber einer Rhetorik des rechten Winkels einen organischen Modus der Abbildung ein, der die gezeigten Gegenstände zum Fliessen bringt und in einen neuen Wirklichkeitsgrad überführt: Eine Mauer aus Pflastersteinen buchtet sich eigentümlich nach vorne aus, als würde sie gerade ausrinnen; oder ein Stück Urwald scheint durch eine schwebende Seifenblase, in der ebenfalls amorphe Zweige und Äste erkennbar sind, aufgerissen zu werden.  

Dass es dabei weniger um die Demonstration von Spezialeffekten als um die Tiefe der Einsichten, die dank dieses Instruments möglich werden, geht, zeigen diejenigen Fotografien, in denen ein Mensch als Träger des Spiegelobjekts sichtbar wird. Hier wirkt der Spiegel in einer Doppelfunktion sowohl als realer Schutzschild als auch als metaphorischer „Seelenreflektor“.

Die Rundform des Spiegels führt in der Kunstgeschichte einerseits auf die früheste Porträtform im Tondo (Rundbild) zurück, die bereits in der Antike gerade auch in architektonischen Zusammenhängen eine Verwendung fand, die ambivalent zwischen Relief und Skulptur stand, und andererseits ist der Rundspiegel selbst ein außergewöhnliches Objekt mit einer eigenen Geschichte. Parmigianinos berühmtes Selbstbildnis im Konvexspiegel aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien von 1523/24 beispielsweise bringt beides zusammen: Es gibt als Tondo das Porträt des Künstlers wieder – der Malgrund ist kongruent zum Spiegel und fällt mit diesem in eins. Während allerdings die Zentrierung des Menschenbildes im Konvexspiegel noch auf ein im Kosmos ungebrochen verankertes humanistisches Weltbild hinweist (nur an den Bildrändern deutet sich bei Parmigianino dessen Auflösung in der Verzerrung der Hand bereits an), so entspricht Georgia Creimers Verwendung des Konkavspiegels einer dezentralisierten – mithin postmodernen – Perspektive. Weit außerhalb des konventionellen Gegenwartsraums sind ihre Tondi als Bilder im Bild tendenziell entgrenzend, sind Träger einer anderen Realitätskonstruktion.

Bereits in früheren Arbeiten untersuchte Georgia Creimer solche Formationen hybrider Angleichungen von gestalteten Objekten an deren natürliche Bedingungen, wie beispielsweise in ihrer Werkgruppe Naturezas, zu der auch die Dreierserie Kalb gehört. Dieser Zustand des „Dazwischen“ ist dabei auch ein signifikanter für Creimers Werk generell: Ihre Skulpturen, Objekte, Malereien und Fotografien liegen an der Grenze zwischen amorph und abstrakt, zwischen anorganisch und organisch – und sind damit Teil eines Diskurses einer „Verlebendigung“ von Wissensprozessen, bei dem die wechselnden Transfers zwischen bildender Kunst und Lebenswissenschaften den Dualismus von Kultur und Natur abgelöst haben.