Res naturae … sprichst Du nur das Zauberwort

Katrin Bucher Trantow

Für das Herz ist das Leben einfach: Es schlägt, solange es kann. Dann stoppt es. Früher oder später, an dem einen oder anderen Tag, hört seine stampfende Bewegung ganz von alleine auf, und das Blut fließt zum niedrigsten Punkt des Körpers, wo es sich in einer kleinen Lache sammelt, von außen sichtbar als dunkle und feuchte Fläche unter der beständig weißer werdenden Haut (...). [1]

 

Die Zellen sind die Basis allen Lebens. Sie sind die Form der Existenz. Es sind vergrabene Welten, in denen ständige Bewegung herrscht, Zeit vergeht, Form sich verändert. Leben und Sterben formen Gestalt nach Gestalt. Bild nach Bild. Nichts steht still, alles fließt. Das anschauliche Hämatom des Todes steht in Karl Ove Knausgårds radikal lapidarer Einführung in das Buch Sterben für das geisterhafte Echo des Vergänglichen. Ebensolche fließenden Lachen, Zeichen, Linien und biomorphe Gestalten bilden die Basis des Formenvokabulars von Georgia Creimers bildnerischem Schaffen. Einer grabenden Archäologin gleich extrahiert sie Einzelformen, stellt sie frei und begibt sich in ihren fotografischen, zeichnerischen und malerischen, aber auch skulpturalen Arbeiten in tiefer liegende Ebenen, die jenseits einer weitwinkligen Oberflächenwahrnehmung in der Natur der Dinge zu finden sind.

 

Incorporado

Der spitz zulaufende Ausstellungsraum des Semperdepots [2] mit seinen beeindruckenden 830m2 und den drei Säulenreihen zu jeweils sieben gusseisernen Geschoßträgern wird unter Georgia Creimers Händen zum zugänglichen Walfischbauch. Dunkel und abgeschlossen und von unklarer, orientierungsschwerer Dimension, finden sich an seiner wirbelgleichen inneren Tragstruktur 14 organische Bildformulierungen, die in ein zutiefst vergrabenes Inneres schauen: Als schwarz-graue Organismen wachsen Creimers Biome aus der schwebenden, weißen, scheinbar selbst leuchtenden Leinwand. Fließenden Zellstrukturen gleich werden sie vom Raum inkorporiert. Durch sie wird er zum lebendigen System, in dem die Säulen zu Wirbeln mutieren und auf ein mögliches Körperäußeres hinweisen.

Der Begriff des Bioms stammt aus den Biowissenschaften und bezeichnet dort Lebensgemeinschaften oder Großlebensräume wie das Ökosystem, das unter lokalen Bedingungen (Klima, andere Umweltfaktoren) entsteht. Creimers Biome sind deutlich begrenzte, organische Formen. Sie sind mit 9H, dem härtesten verfügbaren Bleistift, gezogen,  mehrfach überzeichnet und auf ihrer mit Gips grundierten Leinwand bis zum totalen Schwarz mit Gouache ausgemalt. Mit der Soghaftigkeit eines Schwarzen Loches scheinen sie aus dem gleißenden Bild herauszuwachsen und uns in die Tiefen des Universums blicken zu lassen. Mit ihrer quellenden Form, die an flüssige Einheiten unter dem Mikroskop erinnern, ziehen sie die BetrachterInnen hinein in eine fließende Welt versteckter Orte. Sie verschieben Größenverhältnisse und decken die eigene Wahrnehmungsebene als nur eine der möglichen Perspektiven auf unterschiedliche Biome bzw. Lebensräume auf.

 

Innere Kontextverschiebungen_Isolation

Creimer nutzt das Instrument der prinzipiellen Verschiebung von Wahrnehmungszusammenhängen. Sie verwendet die De- und Rekontextualisierung, um innere Verwandtschaften zu finden. Bereits in vergangenen Arbeiten [3] wurden unterschiedliche Orte und Situationen verwoben und Erinnerungen sichtbarer Teil der Arbeit. Bei der seit 2004 sich entwickelnden malerischen Werkserie Biom generieren sich die großformatigen Bilder in der Übersetzung aus Bleistiftskizzen von automatischen Zeichnungen. Creimer nennt den Vorgang „halb-blindes Zeichnen“; zuerst am Tisch und in ständiger Bewegung und Drehung des Skizzenblattes geschieht es „wie in einem Tanz“ und be-zeichnet eine innere Reaktion auf Eindrücke von Außen, wie sie in der Papierbeschaffenheit oder im Widerstand des Stiftes liegen können. Der innere Automatismus am Blatt ist die erste Phase der prozesshaften Bildfindung, die zweite die endgültige, gemalte Bildwerdung, die aus der Skizze eine „gute Gestalt“ extrahiert, sie isoliert und zu einem eigenen, zusammenhängenden System der Formen werden lässt. [4]

 

Unheimliche Phantasmen

Als „wesenhafte Grenzgänger zwischen Wand, Boden und Raum“ bezeichnete der weitsichtige Kunsthistoriker und Kurator Markus Brüderlin 1994 die Arbeiten von Georgia Creimer. Er sah in ihren Objekten und Zeichnungen „groteske Wesen mit dem diskreten Charme des Monströsen“. [5] Als Mischwesen zwischen gezogener Linie, begrenzter Fläche und dreidimensionalem Objekt strecken sie sich den Betrachtern entgegen, laden sie ein und fordern sie auf, das Gegenüber der Dingwelt als eine elementar lebendige wahrzunehmen.

Wenn Brüderlin davon spricht, dass sich bei Creimer die rokokohafte Linie der Groteske auf die Betrachter ausweite und ihr dabei die Architektur als wichtige Inspirationsquelle diene, so deutet sich darin auch eine später immer evidenter werdende Wesensgleichheit zwischen architektonischem und menschlichem Körper an, die sich gerade in Incorporado ausdrücklich manifestiert: Incorporado, also einverleibt sein, oder auch verkörperlicht werden, verweist einerseits auf afro-brasilianische Rituale, andererseits auf Diskurse um die kognitionswissenschaftlichen Theorien des Embodiment, nach denen das Bewusstsein einen Körper braucht und als Bedingung eine physi(kali)sche Interaktion voraussetzt. Diese unbedingte Interaktion mit den Dingen appelliert an eine Dualität von Zuständen, in denen Objekte nicht nur selbst Körper, sondern auch immer Teile anderer Körper und Zustände sind. Wenn der Ausstellungsraum des Semperdepots zum biomorphen Inneren und dabei zum Hort und Rahmen für die mal mikro-, mal makroskopisch geführte Inszenierung der aus der Fläche arbeitenden Organismen wird, ist dies Teil eines gesamten, beseelten Ganzen: die gusseisernen Säulen, zwischen denen die Biome hängen, entpuppen sich bei näherer Beschäftigung mit dem Haus als ein Ausschnitt aus einer verbundenen Struktur, die das gesamte komplexe Gebäude trägt und die vier Stockwerke miteinander verzahnt. 

Es ist, als begebe sich Creimer auf die Suche nach einem Geist in den Dingen, um direkt und intuitiv mit den BetrachterInnen in Kontakt zu treten. Vielleicht inspiriert von der brasilianischen Kultur, in der geisterhafte Kräfte ebenso eine Rolle spielen wie ausgeprägte künstlerisch-partizipatorische Elemente, wird ihr „im besten Fall“, wie Patricia Grzonka meint, „ein Zutritt in die andere Dimension“ [6] möglich.

Creimer überführt Zweidimensionales in die dritte Dimension – und wieder zurück. Es ist die grundsätzliche Beschäftigung mit der Überführung per se, die in anderen Arbeiten ebenso auftaucht wie in den Biomen, die den Raum des Semperdepots zur geisterhaften Collage machen: In der Überführung in einen Zustand, wo sich affektives und emotionales mit geistigem Wahrnehmen treffen und im Körperlichen eins werden, setzt Creimers künstlerischer Atem ein. Mit der Kontextverschiebung wendet Creimer ihren künstlerischen Blick als fokussierende, freistellende Lupe auf Zwischenreiche des Allgemeingültigen. Sie nutzt Gestaltphänomene, um Formen zu finden bzw. aus dem Unbewussten oder Abseitigen zu extrahieren und zu rekonstruieren. [7] Jenseits einer melancholischen Isolation fahndet sie nach systemischen Gemeinsamkeiten.

Alles dreht sich um die Frage des menschlichen Wahrnehmens von unmittelbaren Realitäten. Dementsprechend sind die Biome als Bearbeitung körperlicher Denk- und Gefühlszustände zu begreifen, die sich in Incorporado zu einer Ganzheit im Sinne eines lebenden Organismus zusammenschließen.

Denn Leben und Sterben formen Gestalt nach Gestalt. Bild nach Bild. In der Natur steht nichts still, alles fließt. Zusammen.

 

 

Katrin Bucher Trantow, aus „Res Naturae ... sprichst Du nur das Zauberwort“, Katalog: „incorporado  georgia creimer“ 2017

 

 

 

 


[1]              Karl Ove Knausgård, Sterben, Aus dem Norwegischen von Paul Berf. München: Luchterhand 2015, S. 7.

[2]              Das Semperdepot stammt aus dem 19. Jahrhundert, wurde 1874–77 von Gottfried Semper und Carl Freiherr von Hasenauer erbaut und diente als Produktionsort für Theaterdekorationen und -kulissen. Es ist viergeschoßig und hat einen dreieckigen Grundriss mit schräg abgeschnittener Spitze. Eine Quermauer mit großen Türen teilt den Bau in zwei Bereiche: einmal in den Prospekthof, über alle vier Geschoße mit rundumlaufenden Galerien hin offen, einmal in hallenartige Räume, die an beiden Seiten der Mittelwand übereinander angeordnet sind. Das Tragwerk der Decke im Prospekthof bilden je sechs Meter hohe gusseiserne Säulen, die untereinander verschraubt sind und in drei Reihen jeweils die übereinanderliegenden Hallen durchlaufen. Vgl. http://www.simskultur.net/wien/wien/semper-depot

[3]              Etwa im Fotoprojekt der Geliehenen Landschaft, wo das österreichische Lunz sich fotografisch mit Lençóis in Brasilien verschwistert.

[4]              Die „gute Gestalt“ ist nach den Theorien der Gestaltpsychologie seit den 1920er-Jahren und den Forschungen von Max Wertheimer etwa eine Gestalt, die Einfachheit und Prägnanz besitzt und in sich geschlossen, klar vom Hintergrund abgetrennt oder gleichfarbig ist.

[5]              Markus Brüderlin, Flatliners. Grenzgänger zwischen Fläche und Raum, in: Georgia Creimer, Ausstellungskatalog. Galerie Eugen Lendl, Graz 1994, S. 6.

[6]              Patrizia Grzonka, Die Einverleibung der Welt, in: Georgia Creimer Intimate Space, Ausstellungskatalog. Wien: Schlebrügge.Editor, 2012.

[7]              Auch hierzu gibt es in Creimers Werk Vorläufer wie etwa die Vestiges oder die Landscape Cakes.