„Res Naturae ... sprichst Du nur das Zauberwort“

Katrin Bucher Trantow, 2017

Für das Herz ist das Leben einfach: Es schlägt, solange es kann. Dann stoppt es. Früher oder später, an dem einen oder anderen Tag, hört seine stampfende Bewegung ganz von alleine auf, und das Blut fließt zum niedrigsten Punkt des Körpers, wo es sich in einer kleinen Lache sammelt, von außen sichtbar als dunkle und feuchte Fläche unter der beständig weißer werdenden Haut (...).

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Zu einer Sphäre des Instabilen Künstlerische Verfahren bei Georgia Creimer

Patricia Grzonka

Georgia Creimers Arbeiten bestechen zunächst durch eine Fülle an formalen Zugängen, die Anleihen bei verschiedenen künstlerischen Gattungen nehmen und sich mit den Inhalten eines weiteren Backgrounds anreichern. Durch diese breite Palette öffnet sich ein intuitiver Prozess, in dem sich Form und Produktion mit einem spezifischen kulturellen Wissen verschränken. Die große Medienvielfalt unterstützt dabei Formfindungen, die oft aus einem einzigartigen künstlerischen System generiert werden. Es ist eine Welt voller unerklärlicher Bilder und Zusammenhänge, deren ambivalenter Charakter unser Unbewusstes anspricht.

Eine Welt des „Dazwischen“

Bereits mit dem Titel Incorporado weist Georgia Creimer in die Richtung dieses „Dazwischen“. Das Adjektiv „incorporado“ bedeutet auf Portugiesisch „einverleibt, verkörperlicht“ und kann auf Deutsch mit „inkorporiert“ nur ansatzweise wiedergegeben werden. Die Künstlerin rekurriert vielmehr auf die kultische Bedeutung des Begriffes in ihrem Heimatland Brasilien, wenn sie schreibt: „Ein Brasilianer kann dieses Wort nicht hören, ohne an den spirituellen afro-brasilianischen Ritus der Macumba zu denken, bei dem ein Medium von einem Geist in Besitz genommen wird.“ Mit Incorporado meint Georgia Creimer aber auch einen unbewussten körperlichen Prozess, der sich in künstlerischen Setzungen niederschlägt und eher werkimmanent zu verstehen ist. Diese Umsetzungen, die als komplexe Verfahren hinter einem Werk stehen, werden im Folgenden als Eigenheiten von Creimers medialen Angleichungen beschrieben.

Creimer spricht aber auch den besonderen Austausch zwischen verschiedenen Kulturen an, wie er in Brasilien durch die Aufnahme, Angleichung und Anverwandlung unterschiedlicher künstlerischer Praktiken erfolgte. Hier bezieht sie sich unter anderem auf das "Anthropophagische Manifest“ des brasilianischen Schriftstellers Oswald de Andrade aus den 1920er-Jahren, in welchem dieser eine Orientierung an der ethnischen und kulturellen Heterogenität Brasiliens und ein Ende der Unterwerfung unter die Werte einer westlich/europäisch dominierten Kultur forderte. [1]  Diese konfrontierte Andrade mit einem spezifisch brasilianischen Modernismus, in dem das „tropische Wuchern“ dem rationalen Denken der europäischen Moderne entgegengesetzt wurde. Einflussreiche südamerikanische Künstlerinnen und Künstler der 1960er-Jahre wie Marta Minujín, Lygia Clark oder Hélio Oiticica spielten mit der Überschreitung dieser verschiedenen Traditionen und „inkorporierten“ auch U.S.-amerikanische Konzeptkunst in ihre jeweilige künstlerische Praxis.

In jüngerer Zeit erfuhren diese moderne-kritischen Ansätze eine Erweiterung durch künstlerische Verfahren, die gegen die Verdrängungsleistungen des Zivilisationsprozesses „neo-animistische“ Praktiken entwickelten und dadurch zu einer Aufwertung verhalfen. [2]


Aspekte des „Dazwischen“

Georgia Creimers Konzepte und Verfahren, denen sie in ihren Produktionen folgt, sind sowohl von dieser besonderen brasilianischen Situation geprägt als auch von dem Eindruck der Differenz zum „tropischen Amalgam“, welche sie mit ihrer Arbeit in einem engeren europäischen Kontext – und in einem speziell österreichischen – erfährt. Inkorporiert bedeutet in diesem Zusammenhang auch das Abtauchen in eine eigene, innere Welt – eine Welt der Verinnerlichung.

Am auffälligsten geschieht dies zunächst in einer Serie von Werken, die Creimer Biome nennt und an denen sie seit 2004 kontinuierlich arbeitet. Basis der Biome sind sogenannte „halb-blinde“ Zeichnungen, in denen die Künstlerin mit geschlossenen Augen Linien auf ein Blatt Papier zeichnet. Aus dem entstandenen grafischen Geflecht werden in einem intuitiven Prozess Formen ausgewählt, die später zum Teil am Computer weiter bearbeitet werden und als Vorlage für größere malerische Werke dienen. Halb sind diese Zeichnungen dem Zufall überlassen worden, halb scheinen sie direkt aus einem unbewussten Zustand geschöpft. So erscheinen sie als eine Art Zwitterwesen: organisch, fleischlich und amorph, aber auch einer konzeptuellen Praxis entsprungen. Sie sind eine Antwort auf die écriture automatique des Surrealismus und zeugen, was ihren Umgang mit künstlerischen Techniken betrifft, von ihrem Arbeiten in einem prämedialen Zustand.

Aber auch frühere Werke wie On Stones oder Linse wirken auf ihre Art seltsam animiert: Die mehrteilige Arbeit On Stones, in den Lichthöfen der Universität Innsbruck als Kunst am Bau realisiert, ist ein hybrides Werk aus vorgefundenen Objekten, Schrift und Malerei. Wie Ufos scheinen die tonnenschweren Findlinge aus den Tiroler Bergen in eine Architektur aus Glas und Stahl eingebettet, auch sie in gewisser Weise „inkorporiert“. Am Boden zeichnete Georgia Creimer die Umrisse der Steine nach und erweiterte sie in Schwingungen von schwarz-weißen Umringungen. So scheinen die Steine immateriell zu pulsieren. Ergänzt wird die Installation mit einem Text des Schriftstellers Christoph Ransmayr auf den gläsernen Brüstungen der Lichthöfe. Mit Linse bezeichnet die Künstlerin eine seit 1999 kontinuierlich gewachsene Serie von Fotografien, die mit einem konkaven Spiegel als Sujet aufgenommen wurden. Der rund 50 Zentimeter im Durchmesser große Spiegel wurde an ganz unterschiedlichen Orten in der freien Natur und in architektonisch vordefinierten Außenräumen platziert und mit seiner optischen Brechung wiederum abfotografiert, sodass der Reflex auf der Spiegeloberfläche als runder oder oval verzogener „Fremdkörper“ in der Aufnahme sichtbar wird. Der konkave Spiegel fungiert hier als Medium, das einen neuen bildnerischen Raum aufreißt, der auf eine andere – psychische, sinnliche oder transzendente – Realität hinweist.

Auf eine ähnliche Verkehrung gewohnter Sinneswahrnehmungen scheint eine Installation wie Brut abzuzielen: Für den Kunstraum Weikendorf in Niederösterreich entwarf Georgia Creimer 2015 überdimensionierte „Knödel“, die sie auf einer gleich überdimensionierten Teller präsentierte und einheitlich weiß bemalte. Beim Betreten des Raums empfand man die unterschiedlichen Größenverhältnisse als einen „Alice-im-Wunderland-Effekt“, dieses immer wiederkehrende Gefühl des „Fremdkörpers“, sowohl bei der Skulptur wie beim Betrachter.

Hybride Angleichungen von gestalteten Objekten an einen Zustand der Natur waren immer wieder Teil von Creimers Arbeiten: in ganz frühen Werken wie Garten, aber auch in einer Arbeit wie Sisyphus, ganz besonders aber in den Installationen Kalb und Body of evidence I und II. Creimer arbeitete hier mit der Umsetzung von künstlerisch Unwertem – in Kalb mit Rindsfellen, in Body of evidence mit Hundeurin. Es ist dieses Augenmerk auf in der Kunst kulturell vernachlässigte Materialien, das in den 1990er-Jahren als Formation des „Abjekten“ [3]  bezeichnet wurde. Georgia Creimers Zugang liegt indessen weniger auf dem psychoanalytischen Aspekt dieser Aneignungen, der u.a. von Julia Kristeva thematisiert wurde, als vielmehr im Ausgleich zwischen dem bloßen Material tierischen Ursprungs und seiner Überhöhung durch den nobilitierenden künstlerischen Akt. Die Arbeiten lesen sich als Akte der Ehrerbietung vor jeglicher Kreatur und sind insofern wiederum Teil eines Verfahrens neo-animistischer „Verlebendigung“, das sie im Kontext der brasilianischen Avantgarde des „Tropicalismo“ fand [4].  Die künstlerischen Mittel sind auch hier sehr divers: Fotografien werden als Recherchetool verwendet und schließlich als bemalte Objekte umgesetzt (Body of evidence). Felle dienen als Vorlage für den Bau surreal anmutender Gehäuse (Kalb).

Die Formation des „Dazwischen“ bedeutet hier zwar in erster Linie „zwischen“ den Gattungen: halb Skulptur, halb Gemälde, halb Zeichnung, halb Objekt, halb Collage, halb Readymade und so fort. „Dazwischen“ hat aber auch einen tieferen metaphorischen Sinn: zwischen Bedeutung und freier abstrakter Entfaltung – wie im Fall der Biome. Nachdem diese freien Formen für nichts Bildhaftes stehen und sich scheinbar nur auf sich selbst beziehungsweise auf die ihnen innewohnenden Produktionsprozesse beziehen, folgen sie der eigenen Logik einer nicht-repräsentativen Bildpraxis.

Mit ihren künstlerischen Verfremdungsstrategien sucht Georgia Creimer bewusst einen neuen Zugang zu den unbewussten Ebenen des Produktiven und verwendet sie als Tool für eigene Schöpfungen. Den verfestigten Kategorien der warenförmigen Dinge setzt sie eine schrankenlose „Welt“ der Instabilität, des Fließens und des Beweglichen entgegen. Mit den von ihr initiierten Prozessen der Verlebendigung von toter Materie arbeitet Creimer auch an einer Aufweichung statischer Werkkategorien. Zentral ist aber nicht dieser Aspekt, sondern vielmehr die starke Verfeinerung dieser Ideen, in die Technologie und Philosophie, Mystik und Subjektivität genauso Eingang finden wie Rationalismus und Kritik.

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[1]       Oswald de Andrade: Manifesto Antropófago, erstmals erschienen in Revista de Antropofagia, 1.1, 1928.
[2]       Vgl. Irene Albers, Anselm Franke (Hg.), Animismus: Revisionen der Moderne, Zürich: diaphanes, 2012.
[3]       Julia Kristeva, Powers of Horror: An Essay on Abjection, Trans. Leon S. Roudiez. New York: Columbia University Press, 1982.
[4]       Sabeth Buchmann, Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica, Berlin: b_books, 2007, S. 233.